Markus Wirthmann

Kapelle am Wegesrand

2005

Walfahrtskapelle, historisch infiziert

- nicht realisiertes Projekt -

Ich bewege mich mit der Konzeption meines Beitrages für die Skulpturbiennale-Münsterland 2005 an zwei Ideensträngen entlang, die sich beide sowohl auf das Erscheinungsbild der Region, wie es sich dem, heute meist durchfahrenden, Reisenden darstellt, als auch deren Historie, niedergelegt in Schriften und archiviert an zahlreichen Orten; der eine Strang tut dies eher beiläufig, indem er die Architektur einer kleineren Form des Sakralbaues, eben der der Kapelle, in abstrahierter Form aufnimmt und der andere Strang benutzt ganz im wörtlichen Sinn die geschriebene und archivierte Geschichte dieser Region, um sie in eine rein visuell und ästhetisch erfahrbare Struktur zu übersetzen.
Beide Stränge werden in der Skulptur schließlich zusammengeführt und verbinden sich unter Zuhilfenahme äußerer Naturereignisse, hier insbesondere der Lichtverhältnissen bei wechselnden Wetterlagen, zu einem Ganzen.

Strang eins, die Kapelle: Auffällig wird dem Reisenden die Vielzahl der kleinen Sakralbauten am Wegesrand. Kruzifixe und Heiligendarstellungen säumen die Straßen und Wegesränder und werden alle paar Kilometer durch ein kleines Kirchlein, eine Andachts- oder Walfahrtskapelle ergänzt. Zugegebenermaßen wurde ich natürlich ganz gezielt zu einigen dieser Kirchlein geschickt, um sie auf ihre Tauglichkeit und Eignung zum Kunstort oder -sujet hin zu untersuchen. Ohne weitere statistische Maßnahmen zu ergreifen behaupte ich, dass die Sakralbaudichte der kleinen und mittleren Ausformung mit der im südlichen Bayern mithalten kann.
Hier nimmt die Religionsgeschichte des Münsterlandes, die ich an dieser Stelle bestimmt nicht mehr zu rekapitulieren brauche, lebendigen Einfluss auf die Landschaft und prägt sich dem Reisenden in sein ganz persönliches retinales Geschichtsarchiv ein.

Mein Entwurf greift die Kapelle in ihrem Volumeneindruck, nicht in exakten Maßen auf. Die Höhe ist in etwa eine doppelte menschliche Körperhöhe, die Tiefe entspricht in etwa der eineinhalbfachen Höhe. Der Eindruck ist leicht klaustrophobisch, zumal die wenigen Fenster sich hoch an nur einer Seite befinden. Die Fensteröffnungen liegen weit oben und ziehen sich hinunter bis etwa auf Kopfhöhe. Man schaut nicht hinaus, sondern empor. Zumal die Fenster, wie in Kirchen, Kathedralen und Kapellen auch, nicht zum Hindurchsehen gemacht sind, sondern als Projektoren für ganz bestimmte Inhalte dienen. Aber dazu mehr im zweiten Strang meiner Ausführungen.
Ich stelle mir den Eindruck in etwa vor, wie im Kölner Dom oder im Ulmer Münster, nur auf Sparflamme – es ist ja auch nur von einer Kapelle die Rede und nicht von einer Kathedrale.
Als Material dient einfacher Sichtbeton, der in seiner Profanität die sakralen Verweise, Größe, Volumen, Fenster in Altarformation, konterkariert, aber in seiner Neutralität eine hervorragende Projektionsfläche bietet, metaphorisch und wie im folgenden ausgeführt auch ganz real.

Strang zwei, die historische Infektion: Ausgehend von einem Verfahren, das ich schon seit einiger Zeit benutze, um literarische Texte aus ihrer geistigen Vieldimensionalität zu befreien und in die zwei Dimensionen des Tafelbildes zu zwingen, werde ich drei verschiedene Texte be- und verarbeiten, um aus ihnen drei farbige Glasfenster herzustellen. Diese werden in die Fensteröffnungen der Kapelle eingesetzt.
Grundlage des Verfahrens ist die Tatsache, dass Bildinformationen am Computer codiert sind. Der durch die breite Nutzung des Internets in den alltäglichen Gebrauch übergegangene Quellcode von Bildern (und jeglicher anderen Information) ist der sogenannte ASCI-Code. Dieser besteht im Grunde aus allen uns zu Verfügung stehenden Schrift-, Interpunktions- und Sonderzeichen und summiert sich zu einer Anzahl von 256 Zeichen. Mit dieser gering anmutenden Zahl von Codierungszeichen kann man also eine Abbildung der Mona Lisa oder ein Foto-Handy-Porträt erzeugen und elektronisch übertragen. Der vom Computer zu diesem Zweck erzeugte Code, eine Art von Text, ist für den Menschen nicht so einfach lesbar und erscheint uns als wirrer Zeichensalat.
Mein Verfahren zur Infektion benutzt literarische, in diesem Fall historische Texte und schiebt sie dem Computer als Quellcode unter. Der, aus elektronischer Sicht, vom Menschen angerichtete Zeichensalat wird als vielfarbige, abstrakte und zweidimensionale Information ausgegeben - eben als Bild.

Die Auswahl der Texte erfordert mehr Zeit und Sorgfalt, als sie mir im Rahmen einer ersten Recherche zu diesem Projekt aufzubringen möglich war.
Die im Entwurf verwendeten Texte können aber als Beispielhaft für meine Auswahl in den Randbereichen des Historischen oder dessen, was in längerer oder kürzerer Zeit historisch werden wird, stehen. Nicht zuletzt beabsichtige ich, das Entstehungsdatum der Skulptur auch in einem der Texte widerzuspiegeln. Eines der Fenster muss also noch auf einen zukünftigen, im Jahr 2005 entstehenden Text warten.
Die Texte sind: Ein kurzer historischer Abriss über die Geschichte der Firma Iglo, Ein aktueller Gesetzestext (Hartz 4) und eine aktuelle Ausgabe der Amtlichen Bekanntmachungen des Kreises Borken.

Die Skulptur: Die Ausrichtung des Baukörpers erfolgt mit der Fensterseite in südlicher Richtung. Dies hat zur Folge, dass die Hauptachse der Skulptur, in Analogie zu vielen Kirchenbauten, in Ost-West Richtung zeigt. Die Seite für die Eintrittsöffnung ist nicht festgelegt und wird nach den Erfordernissen und Gegebenheiten vor Ort gewählt.
In dieser Ausrichtung wird der Innenraum der Skulptur zur Projektionsfläche für das Licht, das durch die farbigen, historisch infizierten Fenster fällt. Mit dem Sonnenlauf von Ost nach West und den wechselnden Wetterverhältnissen wird sich der Innenraum ständig verändern und zu jedem Zeitpunkt einen einzigartigen, nicht reproduzierbaren Eindruck erzeugen. Bei Nacht werden, je nach örtlichen Bedingungen, der Mondlauf und eventuell vorhandene künstliche Lichtquellen für einen ähnlichen Effekt sorgen.

Ich habe mich entschieden, den Ort für die Positionierung meiner Skulptur noch nicht definitiv festzulegen. Während meiner Recherchereise habe ich die meisten der vorgeschlagenen Orte besucht, von denen einige als Aufstellungsort in Frage kommen. Es scheint mir jedoch sinnvoll, ein geeignetes Gelände in Zusammenarbeit mit den örtlichen Verantwortlichen (und deshalb Ortskundigen) zu finden.